Liebe Trauergemeinde, Schwester Ursula wäre nicht Schwester Ursula, wenn sie nicht etwas hinterlassen hätte, etwas Ordentliches, etwas Wohldurchdachtes und klar Formuliertes, für den Tag, an dem wir sie verabschieden und der Gnade Gottes überantworten. Nein sie hat sogar schon vor vielen Jahren die Briefkuverts beschriftet, mit den Adressen derer, die von ihrem Tod in Kenntnis zu setzen sind. Und für den Pfarrer hat sie eine maschinengeschriebene Seite formuliert – Zitat: „Ein paar Daten zum Lebenslauf“. Ebenfalls typisch für sie ist, dass dieser Rückblick dann asketisch knapp ausfällt, sehr bewusst ohne Eigenlob, ohne ausufernde Selbstdarstellung. Und typisch auch, dass die eigene Lebensbilanz am Ende in zwei Bibelworte mündet. So zeigt sie an, dass bei ihrem Abschied Gott mindestens so zur Sprache gebracht werden soll, wie sie selber, die sie ja ihr Leben lange Gott gedient hat.
Ich zitiere ihren Konfirmationsspruch, der am Ende Ihrer Lebensbilanz steht. Eine Verheißung aus dem 32. Psalm, in der Gott verspricht: „Ich will dich unterweisen und dir den Weg zeigen, den du gehen sollst. Ich will dich mit meinen Augen leiten.“
Den richtigen Weg zu finden, und diesen dann geradlinig und selbstlos zu gehen – das war ihr Lebensthema. Und der richtige Weg ist nicht der Weg der Selbstverwirklichung, sondern der richtige Weg ist ein lebenslanger Gottesdienst. Um diesen Weg konsequent zu gehen, da braucht es einen Gott, der „unterweist“ und der „den Weg zeigt“. In diesem Motto schwingt eine Menge Demut mit. Aber da hören wir auch eine klare Festlegung heraus: Sie hat sich selber festgelegt. Festgelegt auf selbstlosen Einsatz im Rahmen einer Schwesternschaft. Sie hat sich selber festgelegt auf Ehelosigkeit und den Verzicht auf ein bürgerliches Privatleben. Sie hat sich selber festgelegt, dahingehend, dass ihr das Wort Gottes wichtiger war als persönlicher Erfolg, eigener Reichtum, eigene Familie.
Diese Festlegungen haben sie spürbar zu einer Autorität werden lassen. Zu einem Felsen im Strom der Zeit mit seinen sich verändernden Lebenszielen, Möglichkeiten und Moden. Schwester Ursula hatte ihren Standpunkt. Überzeugt und zeitlos konsequent. Und diesen Standpunkt hat sie immer klar zu erkennen gegeben. Wenn ihr etwas oberflächlich, eitel, stillos, unmenschlich oder auch einfach nur nicht zu Ende gedacht erschien, hat sie das klar gesagt. Nach jeder Predigt habe ich von ihr eine Rückmeldung bekommen. Und diese Rückmeldung war immer durchdacht - …und vor allem auch immer sehr direkt!
Liebe Frau von Heynitz, Sie als Nichte kennen die Verstorbene von uns allen am längsten. Und sie sprechen davon, dass Ihre Tante erstens „immer authentisch war“, zweitens „ganz klar für sich selber stand“ und drittens „wach am Weltgeschehen und der Politik teilnahm und ausdrücklich eine Meinung hatte.“
Sie war die Intellektuelle unter den Schwestern. Gelernte Bibliothekarin. Buchbegeistert. Sie hat sogar selber ein Buch geschrieben. ZEIGEN: Die „Ottobrunner Chronik“ – eine Übersicht über die Geschichte der Diakonieschwesternschaft, der sie selber angehört hat. Mit dem bezeichnenden Untertitel: „Eine Vergewisserung.“ Denn ihre eigene Lebensgeschichte war aufs engste verbunden mit der Ottobrunner Diakonieschwesternschaft. Und in diesem Buch werden in berührender Weise nicht nur die äußeren Ereignisse festgehalten, sondern die persönliche Motivation für dieses Engagement, die Anfechtungen und Krisen, die ermutigenden Ereignisse und der darin erfahrene Segen Gottes.
Was sie nicht schreibt, ist das sie selber in jungen Jahren vor einer schweren Entscheidung stand. Sie war ja nach nur drei Wochen Ehe mit einem jungen Pfarrer als Kriegswitwe der Schwesternschaft beigetreten. Aber dann – es muss wohl um 1950 herum gewesen sein – hatte sie sich noch ein zweites Mal verliebt. Und dieser Mann hat sich auch sehr in sie verliebt und er hat ihr einen Hochzeitsantrag gemacht. Sie musste sich damals entscheiden: Liebe, Ehe und Familie oder weiterhin Schwesterntracht und selbstloser Dienst? Pfarrer Hofmann hat ihr sehr klar seinen Wunsch mitgeteilt: „Wenn Sie jetzt gehen“ – hat er gesagt – „dann gehen fünf oder sechs andere jungen Schwestern auch und wir können zumachen…!“ Ursula ist deshalb geblieben, Schwester geblieben, hat den eingeschlagenen Weg konsequent fortgesetzt und sie war bereit dafür einen hohen Preis zu bezahlen.
Als sie mir diese Geschichte erzählt hat, habe ich verstanden, warum sie manchmal so hart und schroff sein konnte in ihrem Urteil. Die von ihr geforderte Konsequenz hat sie vor allen anderen von sich selbst gefordert und uns ein Leben lang diszipliniert vorgelebt.
Das hat sie zu einer starken Persönlichkeit gemacht. Und bei aller Bescheidenheit war es dann aber zugleich auch so, dass sie mit Ihren Stärken wahrgenommen werden wollte. Sie hat zwar Schwesterntracht getragen, aber das hat sie nicht zur grauen Maus gemacht. Sie hat zwar auf alle äußerlichen Selbstinszenierungen verzichtet, aber zugleich war ihr wichtig, geachtet und respektiert zu werden. Und wenn sie den Eindruck hatte, dass ihr jemand respektlos begegnet, dann konnte sie vernehmlich und wirkungsvoll knurren.
Sie hatte was zu sagen. Davon erzählen auch die vielen Zeugnisse, die sie hinterlassen hat: Erinnerungen an ihre beruflichen Erlebnisse, an ein Stück Diakoniegeschichte, aber auch an Persönliches. Sie hat gerne und klug geschrieben. Und sie hat sich dann am Ende dann durchaus schon gefreut, wenn diese Texte gelesen und gewürdigt wurden.
Vor ungefähr eineinhalb Jahren wollte sie einen großen Karton voller Texte, Erinnerungen und Fotos einfach wegwerfen. Robert, einer unseren Kollegen, war dann so klug, den Karton nicht zum Altpapier zu tragen, sondern mir zu bringen. Es hätte ihm geschmerzt, so lieblos ein Lebenswerk zu entsorgen. Und ich habe danach durchaus herausgehört, dass es Schwester Ursula gutgetan hat, dass ihre Erinnerungen eben doch wertgeschätzt und bewahrt wurden. Wertschätzung war ihr nämlich durchaus wichtig…
Was hat ihr sonst Freude bereitet? Was hat sie jenseits ihres Pflichtprogramms zu einem genussfähigen, geselligen Menschen gemacht? Jeder hier im Haus weiß, dass Schwester Berta für sie eine unglaublich enge, vertrauensvolle Freundin gewesen ist. Aber was auch ich nicht wusste, ist, dass es früher einen besonderen Ort gegeben hat, an dem sie sich geborgen und zuhause gefühlt hat. Ich spreche vom „Bergnest“, einem großen Ferienhaus in den Höhenzügen des Erzgebirges. Als sie ein Kind war, da haben ihre Eltern dieses schön gelegene Ferienhaus jedes Jahr als Urlaubsziel gemietet. Weil der Preis hoch und das Haus groß war, sind auch die Großeltern mitgefahren. Die Anreise mit viel Gepäck – aber trotzdem etwas chaotisch mit dem Zug. Die Kinder sind zum Tannenzapfen-Sammeln ausgeschwärmt. Für einen vollen Rucksack – erinnert sie sich – gab es dann fünf Pfenning. Am Ende des Urlaubs wurden mit diesem Geld dann Süßigkeiten gekauft. Kindererinnerungen – Erinnerungen, an einen Ort, wo sie ganz und gerne sie selbst gewesen ist. In ihren Aufzeichnungen finden sich auch Bleistiftzeichnungen von dort und Fotos von der Landschaft.
Sie war naturverbunden. Gerade deshalb hat es ihr auch Freude bereitet, dass sie lange im Haus im Wald gewirkt und gelebt hat. Als unser Pflegezentrum hierher verlegt wurde – sie war ja bereits in Ottobrunn im sogenannten „Barackenkrankenhaus“ dabei – hat sie über die Lage in der Natur geschwärmt. Und bei meinem vorletzten Besuch bei ihr hat sie sich – obwohl ihr den Umzug ins Erdgeschoß eigentlich missfiel – den Wald vor dem Fenster gelobt: „Mein Baumhaus“ hat sie das Zimmer genannt, in das sie eigentlich nur widerwillig gezogen ist.
Wir haben gestaunt, dass sie nach Bertas Tod nochmal so aus sich herausgegangen ist. An den Angeboten des Hauses teilgenommen hat, öfter als früher nicht in ihrem Zimmer, sondern im Gang saß. Sonntags hierher in den Gottesdienst zu kommen, war ihr aber immer ein Anliegen gewesen. Und sie hat früher selber viele Gottesdienste hier gestaltet.
Sie hat nicht mehr gut gesehen und das Gesangbuch am Eingang deshalb brüsk zurückgewiesen, Aber dann konnte sie fast alle Lieder auswendig – und viele Worte aus der Bibel auch. So zum Beispiel ihren Konfirmationsspruch aus dem 32. Psalm, in dem Gott verspricht: „Ich will dich unterweisen und dir den Weg zeigen, den du gehen sollst. Ich will dich mit meinen Augen leiten.“
Die Welt mit den Augen Gottes zu sehen: Zu sehen, wo sie gebraucht wird und zu sehen, wie schön diese Welt ist – ja, das wurde ihr zum inneren Programm. Und sie ist diesen Weg immer im Vertrauen auf Gott gegangen. Am Ende hat sie sich danach gesehnt, dass ihr Weg jetzt ans Ziel kommt. Dass sie vor Gottes Angesicht offenbar wird. Dass das Leiden und die Beschränkungen des hohen Alters wie ein Schatten hinter sie fallen. „Beten Sie, dass ich sterben darf“ – hat sie mehrfach zu mir und anderen gesagt.
Gott erbarmt sich jetzt seiner treuen Dienerin. Sie hatte klare Vorstellungen, was gut und richtig ist. Jetzt umhüllt Gott sie mit der Klarheit, in der Du auch auf alles was Dich gestört und geärgert hat, versöhnt zurückblicken kannst. Sie war eine Autorität – da steckt das lateinische Worte „audite“, also „hören“, im Wortstamm. Auf Gott zu hören und dann gehorsam zu sein – das war die Quelle ihrer Autorität. Jetzt darf sie seine Stimme hören, wie er sie ins Leben ruft und sie darf aufleben und Erfüllung und Frieden finden in seiner Gegenwart. Amen.
Dankesworte von Einrichtungsleiter Jan Steinbach:
Schwester Ursula hat ihr Leben der Diakonie gewidmet. Als eine der Schwestern, die von Anfang dabei waren, hat sie unsere Einrichtung mitaufgebaut, Jahrzehnte lang engagiert begleitet und durch ihre Persönlichkeit entscheidend mitgeprägt.
Dafür wollen wir ihr heute Dank sagen und Respekt zollen.
Wir danken für die Ernsthaftigkeit, aus der heraus sie sich als junge Frau entschieden hat, Diakonieschwester zu werden und im Dienste der Menschlichkeit ein selbstloses Leben zu leben.
Wir danken für die Konsequenz und Disziplin, mit der sie ihrer Arbeit nachgegangen ist und dieses Pflegezentrum mitaufgebaut hat.
Wir danken für ihren Glauben, durch den sie zur Glaubwürdigkeit der Diakonie beigetragen hat.
Wir zollen ihr Respekt für ihr Können, für ihre Gradlinigkeit und überhaupt für ihr Wissen und für alles, was sie für uns zu einer Autorität gemacht hat.
Wir danken für das, was sie uns hinterlassen hat: Für die Berichte und Bilder aus unserer Geschichte. Dafür, dass sie uns erinnert hat, wo wir herkommen und wer vor uns hier Gutes bewirkt hat.
Wir lassen sie los in großer Wertschätzung und wissend, dass Sie dieser Einrichtung lange Zeit ein Gesicht gegeben hat und vielen Menschen zum Vorbild geworden ist.
Jesus Christus spricht: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben.“
Guter Gott, lasse den Weg von Schwester Ursula jetzt hineinmünden in die Herrlichkeit des Lebens.
Lasse um sie herum wahr werden, was sie geglaubt und erhofft hat.
Kröne Sie mit Leben!
Amen.